ADB:Neukomm, Sigismund

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Artikel „Neukomm, Sigismund Ritter von“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 23 (1886), S. 513–516, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Neukomm,_Sigismund&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 15:17 Uhr UTC)
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Neukomm: Sigismund Ritter von N., eine der merkwürdigsten Erscheinungen in der Künstlerwelt. Ohne je die Aufmerksamkeit der Menge durch virtuose Leistungen auf sich gelenkt zu haben, verstand er es, durch ein äußeres imponirendes Wesen und durch seine Compositionen, die Jedem etwas gaben, es also eigentlich Jedem recht machten: dem Publicum durch Effecte, dem Kunstkenner durch eine geschickte Arbeit, sich eine in ihrer Art einzige Stellung in der Welt zu erwerben. Wären uns nicht Privaturtheile aus Briefen und Tagebüchern damaliger Zeit aufbewahrt, so könnten wir uns diese Erscheinung gar nicht erklären, denn die Urtheile der damaligen Presse, die Biographien in den Tonkünstler-Lexika und im Vergleich damit die Compositionen selbst, würden uns in ein unentwirrbares Knäuel verwickeln. N. erblickte am 10. Juli 1778 zu Salzburg das Licht der Welt, jener Stadt, der 22 Jahre früher das unsterbliche Musikgenie – Mozart – entsprossen war. Sein Vater, ein wissenschaftlich gebildeter Mann und Lehrer an der Central-Normalschule daselbst, ließ sich die Erziehung seines Sohnes sehr angelegen sein, und da er sehr bald die musikalischen Anlagen desselben erkannte, so sorgte er auch darin für gute Lehrer. Der Organist Weißauer und der Bruder Joseph Haydn’s, Michael, leiteten seine Musikstudien, während er sich auf der Hochschule eine akademische allgemeine Bildung erwarb, besonders Philosophie und Mathematik betrieb. In musikalisch technischer Hinsicht scheint ihm der Vater ganz freien Willen gelassen zu haben, und so wird berichtet, daß er fast auf jedem Instrumente sich einige Fertigkeit erworben hatte und in den Salzburger Kirchenorchestern eine gesuchte Persönlichkeit war, da er von der Orgel bis zur Flöte überall helfend eintreten konnte. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb er auf keinem Instrumente jene technische Vollendung erreicht hat, die selbst unseren größten neueren Meistern fördernd zur Einführung ins Leben war. Im J. 1798 verließ er seine Vaterstadt und wandte sich nach Wien. Durch die Empfehlung Michael Haydn’s an seinen berühmten Bruder in Wien fand N. dort eine sehr freundliche Aufnahme und Haydn gewann ihn so lieb, daß er mehr als Sohn, denn als Schüler im Hause verkehrte. In diesem Verhältniß finden wir ihn bis zum Jahre 1809, und nur im J. 1803 berichtet die Allgemeine musikalische Zeitung in Leipzig, daß er in seiner Vaterstadt Salzburg ein Concert gegeben habe. 31 Jahre alt, tritt er zum ersten Male öffentlich als Componist auf und erlangt damit ein so großes Ansehen, daß sein Name wie ein elektrischer Funke durch Europa fliegt und sich die wissenschaftlichen Akademien beeifern, ihm ihre Anerkennung öffentlich zu erkennen zu geben, so Stockholm und Petersburg. Wenn man erwägt, daß sich damals Beethoven auf dem Gipfel seines Schaffens befand, und dennoch nur die Anerkennung weniger Kenner erreichen konnte, während diesem musikalischen Speculanten es gelingt, die Welt mit einem Wurfe zu erobern, so wirft dies ein klägliches Licht auf die Urtheilskraft der Menge, und es bleibt nur der eine Trost, daß die Zeit dennoch das Urtheil in richtige Bahnen lenkt und dann allerdings den obersten Richter bildet. – Als N. im J. 1809 seinen väterlichen Freund Haydn durch den Tod verlor, hielt ihn nichts mehr in Wien, und er [514] beeilte sich, den schnell gewonnenen Ruhm durch persönliches Erscheinen zu befestigen und zu erhöhen. Schon in Wien hatte er sich als Director größerer Massen geübt und hervorgethan, so daß man ihm den Capellmeisterposten und die Operndirection am kaiserl. deutschen Theater übergab. Sein nächstes Ziel war nun St. Petersburg, um dort seine Werke selbst zu dirigiren; von da ging er nach Moskau, dann nach Paris, überall mit offenen Armen empfangen, als großer Mann geehrt und als feiner Gesellschafter und wissenschaftlich gebildeter Mann, dem die Rede in seltener Weise zu Gebote stand, geschätzt. So eroberte er sich wie ein Cäsar im Fluge die ganze gebildete Welt, und da er ein Schnellschreiber ohne Gleichen war, der in der That die Compositionen aus dem Aermel schüttelte und es überall verstand, dem Geschmacke des Publicums entgegen zu kommen, ohne ihm etwa eine Fülle von bestechenden Melodien bieten zu können, denn seine Erfindungsgabe war seicht und armselig, so stieg er in der Gunst immer höher und die aristokratischsten gesellschaftlichen Cirkel drängten sich um seine Person, Zeitungen posaunten mit vollen Backen seinen Ruhm in alle Enden der Welt, und die vor dem Genie scheu zurückweichende vornehm thuende Allgemeine musikalische Zeitung in Leipzig läßt keine Gelegenheit vorüber, ihren Mann zu preisen. So heißt es 1816, Seite 15, über eine Sonate für Pianoforte op. 16: „Der gründliche rühmlich bekannte Meister hat nicht beabsichtigt, in der Sonate etwas Auffallendes in den Ideen zu schaffen“ – hinter dergleichen Floskeln verkroch sich die damalige Kritik und bestärkte das Publicum in seiner Sucht nach leichter Unterhaltung! Man sollte nun meinen, die Welt hätte endlich zur Erkenntniß gelangen und sich ihrer Launenhaftigkeit gemäß bald anderen Talenten zuwenden müssen; doch auch hier steht N. wieder einzig da, indem er es stets verstand, das Interesse für sich wach zu halten und zur rechten Zeit zu erneuern. Noch im Jahre 1842, als doch Mendelssohn der Held des Tages hätte sein sollen, schrieb obige Zeitung Seite 430: „Wie der würdige Neukomm, der wackere Meister, seine Ideen ausführt, ist hinreichend bekannt und bedarf keines besonderen Anpreisens.“ Wenn auch hin und wieder der Tadel eines vorlauten Referenten mit unterläuft, wie 1833, wo Seite 259 über eine Cantate mit obligater Trompete gesagt wird, „wirksam, wenn auch nicht besonders erfindungsreich“, oder Spalte 280 über eine Sinfonie, die in Jena aufgeführt worden war, „welche den Erwartungen, die jener große Name erregte, nicht ganz zu genügen schien“, so that dies der allgemein verbreiteten Meinung keinen Schaden. Nur in England ließ man N. 1837 hart empfinden, daß er sich neben einen Mann wie Mendelssohn zu stellen nicht wagen dürfe. Diese absichtliche Zurücksetzung eines sonst in England so hoch gefeierten Mannes empörte aber Mendelssohn, und gerade der Ausdruck, den dieser edle Mann seinem verletzten Zartgefühl mehrfach in seinen Briefen gibt, hat uns den Schlüssel zu der Frage gegeben, wie Neukomm’s Stellung sich mit der Bedeutung seiner Leistungen reimt. Schon 1834 schreibt Mendelssohn an Moscheles: „Deine Bemerkungen über Neukomm’s Musik sind mir aus der Seele gesprochen; was mich nur wundert, ist, wie ein sonst so geschmackvoller und gebildeter Mann nicht auch in der Musik in Folge dieser beiden Eigenschaften mehr gewählt und elegant schreibt; denn ohne von den Ideen und von dem Grunde seiner Compositionen zu sprechen, scheinen sie mir oft gar zu sorglos, fast ordinär gemacht zu sein. Auch das viele Blech gehört hierher; schon aus Berechnung müßte man’s aufsparen, von aller Kunst ganz zu schweigen.“ 1837 war das große Musikfest in Birmingham in England, auf dem Mendelssohn’s Paulus zum ersten Male aufgeführt wurde und N., wie seit 1830 alljährlich, auch diesmal als Mitwirkender gewonnen war. Mendelssohn’s Paulus hatte einen ungeheuren Erfolg errungen und in dem Briefe an seine Mutter zieht sich durch alles Andere [515] als der Grundgedanke die Klage über den Wankelmuth der Menge hindurch, dem soeben N. in so offenbarer Weise zum Opfer gefallen war. Mendelssohn schreibt: „Du weißt, wie sie ihn sonst verehrt und wirklich überschätzt hatten, wie alle seine Sachen dort gesucht und gepriesen wurden, so daß ihn die Musiker immer King of Brummagem (König von Birmingham) nannten; und diesmal haben sie ihn auf so unziemliche Art zurückgesetzt, nur ein kurzes Stück von ihm am ersten (dem allerschlechtesten) Morgen gegeben, und ihn selbst ohne die geringste Aufmerksamkeit im Publicum aufgenommen, daß es wirklich eine Schande für die Menschen war, die vor drei Jahren nichts Höheres und Besseres kannten, als Neukomm’s Musik. Das Einzige, was ihm vorzuwerfen ist, ist eben, daß er vor drei Jahren ein Oratorium fürs Musikfest schrieb, was recht auf Effect berechnet war. Die große Orgel, die Chöre, die Soloinstrumente, alles kam darin vor, damit es den Leuten gefiele, und so was merken die Leute, und es thut nicht gut. Daß sie ihn aber zum Dank diesmal so behandelten, ist eben wieder ein Zeichen, was von all ihrem Gefallen zu halten ist, und was man davon hat, wenn man’s sucht.“ Und dazu noch die Aeußerungen in einem Briefe an Hiller, die uns ganz besonders das Wesen Neukomm’s vergegenwärtigen. Mendelssohn berührt hier denselben Gegenstand und fährt dann fort: „Du wirst mir sagen, seine Musik sei auch nichts werth – da stimmen wir wohl überein, – aber das wissen doch Jene (das Publicum) nicht, die damals entzückt waren und jetzt vornehm thun. Empört hat mich die ganze Geschichte, und Neukomm’s ruhiges, ganz gleichmäßiges Benehmen ist mir doppelt vornehm und würdig gegen die Andern erschienen, und ich habe ihn viel lieber gewonnen durch diese entschiedene Haltung.“ – Hier eben offenbart sich uns das Geheimniß des scheinbaren Widerspruches in der Erscheinung Neukomm’s: als Persönlichkeit imponirend, als Componist berechnend. – Moscheles entwirft in seinen Tagebüchern ein ziemlich treffendes Bild von ihm, indem er schreibt: „Ein edler Charakter, fein gebildeter Mann, ein Freund, der sich treu bewährt, leider aber kein Genie, sondern nur ein solider (sic?), wohldenkender, gutschreibender Componist, dem das attische Salz oft störend fehlte.“ Schärfer geht ihm Mendelssohn in seinem Urtheile als Componist zu Leibe und er äußerte einmal mündlich zu Moscheles: „Wenn nur der prächtige Neukomm bessere Musik machen wollte! Er spricht so gescheut und gewählt in Worten und Briefen, und mit Noten schreibt er solche Gemeinplätze.“ – Wir wollen noch in Kürze über Neukomm’s vielbewegtes Leben berichten. Wir verließen ihn in Paris. Dort wurde er in das Haus des allvermögenden Talleyrand eingeführt, der bald eine so große Hinneigung zu ihm empfand, daß er ihn zeitweise ganz an sein Haus fesselte. Doch zwei so unruhige Naturen konnten das Stillesitzen nicht lange vertragen, und findet Talleyrand für gut, auf Reisen zu gehen oder sich zurück zu ziehen, so thut N. ein Gleiches. So 1816, wo ihm sein Gönner einen Platz auf dem Schiffe verschafft, welches den Herzog von Luxemburg als Gesandten nach Brasilien an den Hof zu Rio de Janeiro brachte; dort ward N. als Hofcomponist angestellt. Klima und die Revolution vertrieben ihn nach einigen Jahren wieder und er kehrt auf’s Neue bei seinem Gönner in Paris ein. Der Orden der Ehrenlegion, sogar das Adelsdiplom sind die äußeren Erfolge des vornehmen Umgangs. 1826 durchreiste er Italien. 1827 Belgien und Holland, und 1830 begleitete er Talleyrand auf einer Gesandtschaftsreise nach England, wo er so enthusiastische Aufnahme fand – (Mendelssohn sagt, man hob ihn in den Himmel, stellte ihn über alle Componisten und applaudirte ihm bei allen Schritten und Tritten) – daß er von da ab bis 1837 alljährlich die Saison in England zubrachte und sich als großer Künstler feiern ließ, bis der Bronn der Applause so plötzlich versiegte. 1842 dirigirte er das Mozartfest in Salzburg. Doch nun [516] traten Jahre des Leidens dazwischen, denn ein Augenübel bedrohte ihn mit gänzlicher Erblindung. Eine glückliche Operation gab ihn jedoch seinem früheren Reiseleben wieder zurück, und obgleich er mit gefärbten Brillengläsern sein Auge schützen mußte, wie Fétis berichtet, so finden wir ihn 1849 in München und 1851 in London, wo er zum Mitgliede der Jury zur Prämiirung gewerblicher Gegenstände (hier Musikinstrumente) berufen war. Hier traf ihn der in gleicher Eigenschaft dorthin berufene Fétis, und berichtet dann in seiner Biographie universelle, daß sich N. wieder seiner vollen Gesundheit und gewohnten Heiterkeit erfreue. Eine Reise nach dem Orient bis Constantinopel im Jahre 1856 war seine letzte, und als ihn Fétis darauf in Paris wiedersah, wo er seinen ständigen Wohnort hatte, zeigte er auffallende Symptome von Hinfälligkeit. Bald darauf starb er am 3. April 1858, fast achtzig Jahre alt. – Die kleine Liste der von Fétis in seiner Biographie universelle verzeichneten Compositionen Neukomm’s enthält kaum den zehnten Theil dessen, was er wirklich geschrieben hat. Man rechnet ihm über tausend Compositionen nach, darunter Opern, Oratorien, Messen, Cantaten, Psalmen, andere Kirchengesänge, Sinfonien, Kammermusik aller Gattung bis herab zum kleinen Clavierstückchen. Heute hält es bereits schwer, nur ein und das andere Stück von ihm in großen Bibliotheken aufzufinden!